von Marxelinho

Der vorentscheidende Mann

Zwei Minuten und zwölf Sekunden: so lange hing das Schicksal von Hertha BSC gestern an einem seidenen Faden. Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus wartete auf Instruktionen aus Köln, wo Guido Winkmann aber wohl gerade auf Toilette musste oder anderweitig beschäftigt war. Rekik hatte im Strafraum den Ball mit der Hand berührt, wie schon so oft in dieser Saison lief Hertha Gefahr, mit einem Elfmeter sanktioniert zu werden. Dann musste Steinhaus erst recht selbst eine Entscheidung treffen: nach einem Besuch in der Review Area entschied sie auf nicht strafbares Handspiel. Und Hertha kam schließlich zu einem 2:0-Auswärtssieg gegen das zum Ende hin doch derzeit deutliich desolateste Team der Liga.

Die Szene mit der Videoassistenz war nicht spielentscheidend. Aber sie verdeutlichte, neben der einmal mehr unverständlich langwierigen Prozedur beim "Videobeweis", dass man Spuren von Souveränität bei Hertha mit der Lupe suchen muss. Rekik auf dem Hosenboden, der die Hände über dem Ball zusammenschlägt, dass ist doch die charakteristische Szene, auch wenn Vedad Ibisevic dieses Mal auch einmal den Ninja an der Eckfahne gab, wie das manchmal so ist, wenn einer eine Erleichterung loswerden muss. Der Kapitän war der entscheidende Mann, sein Sturmpartner Davie Selke war der vorentscheidende.

Köln gegen Hertha am Sonntagabend, das war auch das Duell der beiden Europa League-Teilnehmer. Wobei Köln dieses Jahr in der Position von Hertha 2009 ist - die Frage ist inzwischen nur noch, ob Toni Schumacher schon mit Friedhelm Funkel gesprochen hat. Für Köln war es am Sonntag die wohl letzte Chance, mit Peter Stöger weiterzumachen. Für Pal Dardai ging es um die Frage, ob er sein Ausbildungsprojekt fortsetzen kann - oder es vorläufig wegen Überlebenskampf pausieren lassen muss.

Für das Ausbildungsprojekt sprach die erneute Aufstellung von Arne Maier, der nicht schlecht gespielt hat, aber auch schon leichte Zeichen einer Eingemeindung zeigt - sein Spiel ist ein wenig fehleranfälliger geworden, ist auch nicht mehr ganz so inspiriert, kein Wunder, ist er doch umgeben von Kollegen, die fast alle nach einem möglichst ausgewogenen Verhältnis von Licht und Schatten suchen. Mitchell Weiser scheint es in dieser Saison besonders darauf angelegt zu haben, gute Ansätze durch vielfache Zerstreutheiten zu ergänzen.

Die (nicht von den Grünen abgeschaute) Doppelspitze mit Ibisevic und Selke ist auch so etwas wie eine Programmerklärung: zumindest für den Moment müssen eher spielerische Lösungen wieder ein bisschen warten, stattdessen gilt ein Hauruck-Prinzip ohne ballverteilenden Zehner (ob Duda einer wird, ist auch wieder unklarer denn je). Mittelstädt bekam den Vorzug vor Kalou, weil er gute Flanken kann, in Köln allerdings blieb er blass.

Einmal mehr fand Hertha den Schlüssel bei einer Standardsituation: ein Eckball von Plattenhardt (ein wenig komisch übrigens immer das verschwörerische Dazustoßen von Weiser bei ruhenden Bällen, wo doch recht deutlich ist, dass Plattenhardt ausführen wird), Selke gewinnt ein Kopfballduell, Ibisevic staubt ab, und Klünter hebt bei Köln das Abseits auf.

Den zweiten Treffer besorgte Selke mit einer dieser Beschleunigungen, die (neben seiner Stärke in der Luft) auch Teil seiner Begabung sind: Lehmann kam zu spät, den Elfmeter verwandelte Ibisevic. Das reichte dann auch schon, denn danach war beim letzten Aufgebot von Peter Stöger die Luft draußen.

Wenn man Ingo Schillers wegweisendes Wort von den "stillen Reserven" (im Kader) als Leitmotiv über diesen Herbst stellt, dann wird man ein gutes Bild für die Situation bekommen. Die berühmteste stille Reserve Mitchell Weiser spielt zwar derzeit meistens so, als legte er es vor allem auf ein Angebot aus Wolfsburg an (also auf einen vorzeitigen, hochdotierten Rentenvertrag außerhalb von China), aber mit Selke hat Hertha in diesem Sommer einen Spieler verpflichtet, der nicht zuletzt im Vergleich zum FC Köln (vier Tore in der Liga bisher) einen Unterschied ausmacht.

Selke kompensiert die spielerischen Defizite derzeit nahezu im Alleingang, weil er der Formation eine andere Wucht gibt, von der Ibisevic auch profitiert. Für die restlichen Spiele in diesem Herbst, drei gegen Gegner auf Augenhöhe (also aus den schlecht definierten Bereichen der Liga), wäre es von Interesse, zu dieser Hauruck-Formation noch ein paar weitere Facetten hinzuzufügen. Mitchell Weiser hat das in einem Interview nach dem Spiel selbst als Anspruch formuliert, und wenn er das sagt, hat das Gewicht. Denn er war ja eigentlich schon einmal ein eindeutiges Asset, und sollte sich mit einem Dasein als stille Reserve wirklich nicht zufrieden geben.

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