von Marxelinho

Organisierte Praxis

Fußball ist ein einfaches Spiel, das durch das Auftreten einer gegnerischen Mannschaft kompliziert wird. An diesen berühmten Satz musste ich gestern wieder denken, als ich mir das 3:3 zwischen Hertha und Fortuna Düsseldorf (nachträglich) ansah. Nebenbei wollte ich zudem herausfinden, von dem denn diese treffende Bemerkung stammt. Und siehe da, es ist Jean-Paul Sartre: "En fait, dans un match de football, tout se complique du fait de la présence de léquipe adverse." So steht es in der Kritik der dialektischen Vernunft, im zweiten Teil, der sich mit Gruppen in der Geschichte beschäftigt, und dort wiederum in einer Passage über "Organisierte Praxis und Funktion".

Alles kompliziert sich durch einen Gegner. So ist das normalerweise, aber bei Hertha hat sich in diesem Jahr fast alles ohne einen Gegner kompliziert. Wer nach einem Beispiel für einen Chaosclub sucht, wird beim Big City Club in Berlin fündig. Dabei ist auch hier alles ganz normal: eine Entscheidung folgt auf die andere, jede Entscheidung reagiert auf eine Situation, irgendwann sind es so viele Entscheidungen, dass man sie vielleicht besser einem Zufallsgenerator überlassen würde.

Der arme Alexander Nouri, der zur Zeit Cheftrainer von Hertha BSC ist, weil Michael Preetz nach dem überraschenden Abgang von Jürgen Klinsmann den deutlichen Schnitt vermeiden wollte, der eigentlich unumgänglich war, Nouri trifft also dauernd Entscheidungen. Zum Teil reklamiert er dabei Rückendeckung von Experten (den Torwartwechsel empfahl der Torwarttrainer, hieß es). Zum Teil probiert er halt einfach ein wenig herum: Dilrosun und Lukebakio wieder rein, zur Pause dann wieder raus.

Lukebakio wird das Klinsmann-"Dossier" vermutlich nicht gelesen haben, er spielte aber, als wäre ihm an schlechter Nachrede sehr gelegen. Watford, wo man für ihn keine Verwendung mehr hatte, hat gestern übrigens den FC LIverpool geschlagen. Jürgen Klopp betreut nun wieder eine Mannschaft von "Vincibles". Das ist das Schöne am Fußball in England: er ist voller adverser Equipen.

Düsseldorf hat sich deswegen einen Trainer aus England geholt, die Fortuna hat sich unter Uwe Rösler sofort zu einem Ligaverbleibskandidaten entwickelt, und sich dann am Freitag aber so über das Fehlen eines Gegners gewundert, dass Hertha sich in Halbzeit zwei plötzlich doch noch zu erkennen gab. Mit einer unorthodoxen Taktik, nämlich mit Torunarigha in einer offensiven Rolle (defensiv war ungefähr so wirksam gewesen wie Lukebakio), und mit Cunha an allen Ecken und Enden des Spiels.

Der Anschlusstreffer zum Anschlusstreffer war dann allerdings wieder so ein Späßchen vom Fußballgott, der wenig dafür übrig hat, wie sich das Spiel durch Kompetenz zunehmend in eine organisierte Praxis verwandelt. Er verhöhnt gern beide Mannschaften, in diesem Fall durch ein Eigentor, das der Torschütze wahrscheinlich noch immer nicht begreift. Er sah jedenfall sehr verdutzt aus. Der Fußballgott sieht ja schon länger seine Allmacht durch Systemtrainer bedroht. Insofern könnte man auch sagen, dass bei Hertha, wo noch nie ein System wirklich gegriffen hat, der Fußball noch als Religion betrieben wird. Vorwissenschaftlich, archaisch, abergläubisch (Geld kauft Europa), autoadvers.

PS Auch wenn der wesentliche Teil der aktuellen Probleme auf Entscheidungen zurückzuführen ist, nämlich auf eine Überdosis davon, muss Michael Preetz morgen früh einen Trainer präsentieren, also schon wieder eine Entscheidung treffen: Die Saison geht noch zehn Spiele, in denen vom Abstieg bis zu Platz 7 theoretisch jede Menge möglich ist. Alexander Nouri allerdings kann das nicht, das ist mehr als deutlich. Wir können davon ausgehen, dass es derzeit sehr schwierig ist, einen fähigen Mann für zehn Spiele nach Berlin zu lotsen. Erstens gibt es nicht viele von dieser Sorte, und zweitens ist die Aufgabe maximal unattraktiv. Trotzdem muss Preetz etwas tun. Er ist in einem Entscheidungsdilemma, das er nur auf eine Weise lösen kann: dezisionistisch, also durch entschiedenes Entscheiden.

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