Ausbildungsvereinsroman

Gestern lief auf Sky noch einmal eine Wiederholung des Spiels von Hertha in Leipzig kurz vor Weihnachten. Da ich damals vor Ort war, war das jetzt die erste Sichtung in der Konserve. Das trug ein bisschen zur Beruhigung bei, denn die Euphorie dieses außergewöhnlichen Abends hielt bei mir so lange an, dass sich selbst noch bei meinem Besuch beim Damenwahl Podcast im neuen Jahr ziemlich erwartungsvoll über die Rückrunde gesprochen habe.

Natürlich muss man den Sieg bei RB Leipzig relativieren. Aber auch die Aufzeichnung hat mir noch einmal viele Details gezeigt, die mich derzeit eher optimistisch sein lassen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Mannschaft nicht ähnlich auf die Erfahrungen von Leipzig reagiert - und Erfahrungen waren es tatsächlich in einem Sinn, dass aus ihnen etwas hervorgehen kann: eine Geschichte eben, die man als Gruppe schreiben kann.

Die (in meinen Augen berechtigte) frühe rote Karte gegen Torunarigah ist natürlich die Bedingung für alles, dazu kommt als weiteres erzählerisches Element die Verletzung von Pekarik durch Keita, wodurch die Mannschaft eine zweite Umstellung vornehmen musste: zuerst ging Lustenberger in die Innenverteidigung, wo er ein starkes Spiel machte, dann ging Lazaro nach rechts hinten, und auch er blieb klar und konstruktiv.

Es gibt ein paar weniger besungene Helden dieses Sonntagabends wie zum Beispiel Esswein, der mehrfach geschickt agierte, Zeit gewann, der den Freistoß von Lazaro vor dem 2:0 herausholte, oder auch Kalou, und natürlich Arne Maier, der sich in wenigen Wochen in den engsten Kreis von Hertha BSC gespielt hat.

All das wäre aber vermutlich Stückwerk geblieben, wenn da nicht in Davie Selke - ausgerechnet bei seinem Ex-Club, der ihn loswerden wollte - ein Stürmer sichtbar geworden wäre, der das Potential für sehr viel mehr hat. Seit er seine Verletzung auskuriert hatte, hatte er immer wieder angedeutet, was er alles kann - aber erst in Leipzig wurden fast alle seine Qualitäten sichtbar.

Den Führungstreffer leitete er selbst mit einer Beschleunigung ein, die Kalou nicht mitmachte - trotzdem kam der Ball über Esswein wieder zu Selke, dieser Abschluss war einfach, hatte aber schon Torjägerappeal. Stark dann aber auch, wie er in der ersten Halbzeit zweimal durch Antritte im Mittelfeld taktische Fouls provozierte, die als solche nicht geahndet wurden (beim ersten war Dardai zu Recht wütend), die aber Zeit brachten und Souveränität demonstrierten - denn da war der Weg noch sehr weit.

Die beiden Konter zum 3:0 und 4:0 (beide Tore fielen nicht, das dritte allerdings dann doch noch, aber anders) waren Aspekte seines Könnens: sein Tempo mit dem Ball (die Mitnahme mit dem Kopf in der eigenen Hälfte vor der Riesenchance auf das 4:0 ist brillant), sein Zug, seine Ruhe unter Druck. Selke hat Skillz, die Hertha an einen neuen, jüngeren Fußball heranführen - vor allem aber arbeitet hinter ihm eine Mannschaft, die nun mehr in der Lage ist, mit ihm und für ihn zu spielen.

Die Funktion des Kapitäns wird also eine der großen Fragen der Rückrunde. Die Doppelspitze hat sich für meine Begriffe nur für Notfälle bewährt, wir werden also sehen, wie Pal Dardai die Personalie Ibisevic moderiert, und wie der Vedator mit seiner absehbaren Altersteilzeit umgeht (wir sprechen immer unter der hypothetischen Voraussetzung, dass Selke sich nicht verletzt).

Hertha hat eine mäßige Hinrunde gespielt und es geschafft, zum Ende hin noch etwas anderes anzudeuten. Die Position in der Tabelle lässt alle Möglichkeiten. Der Sieg in Leipzig macht noch keine Tendenz, aber manche Faktoren machen eine Tendenz: der Kader musste sich erst entfalten, nun haben wir ihn mit allen seinen Potentialen vor uns, es ist eine hochinteressante Mischung aus Erfahrung und gar nicht mehr "stillen" Reserven.

Hertha könnte nun tatsächlich ein Ausbildungsverein in dem Sinn werden, in dem dieses Wort nicht mehr Ausrede und Hinhalte ist, sondern Programm für einen Bildungsroman, zu dem das kollektiv errungene 3:2 in Leipzig ein exzellenter Prolog sein kann. Nun aber kommen die normalen Schwierigkeiten: einen guten ersten Satz finden (in Stuttgart), und dann mit Inspiration vorankommen. Wir Fans lesen (und schreiben) gerne mit.

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Kommentare

Kommentar von Natalie Keil |

Mir gefüllt vor allem, wie sehr Torunarigha - außer, daß er JEDEN Ball hatte - vertikal denkt und damit entlastet, öffnet. Könnte vor Freude immer quietschen, wie er das (seinen IV-Job) macht. Ich habe Maier auch sehr vermisst. Auch, wenn Darida den Ausgleich eingeleitet hat, den Konter hat er wiederum verdaddelt. Da war einfach mehr drin aufs ganze Spiel gesehen. Den nötigen Drive dafür bringen aber die Nachwuchsspieler. Wir brauchen dringend einen 10er.

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