Gerade rechtzeitig vor dem Anpfiff zur neuen Saison habe ich gestern Abend noch die letzte Folge der Hertha-Doku über die vergangene Spielzeit geschaut. Ein echter Luxus, so etwas frei zugänglich zu haben, im wesentlichen auch gut gemacht, und den Aufwand wert: Hertha BSC stellt sich mit diesen sieben Folgen auf eine gute Weise in ein Schaufenster, mit einer Vielzahl von Aspekten, weit über das Profiteam der Männer hinaus. Die Frauen ("die Mädels von der Hertha", wie Frank Zander eigens neu und zusätzlich eingesungen hat), standen stark im Fokus, aber auch politische Grundlagenarbeit (Besuche bei blauweißen Überlebenden des Holocaust; Stimmabgabe bei der Bundestagswahl). Emotionaler Höhepunkt war sicher der Abschied von Ibrahim Maza, dem Maradona von der Panke.
Besonders wichtig aber war eine Klammer: In Folge 1 wurde Ralf Huschen vorgestellt, der neue Mann in der Geschäftsführung. In Folge 7 wurde Thomas E. Herrich verabschiedet. Er war 25 Jahre bei Hertha, und ist eine der interessantesten Figuren ever. Ein tell-all-Interview mit ihm wird es nie geben, ich lade ihn hiermit trotzdem in aller Form zu einem ein. Er steht für die alte Hertha unter Hoeneß, Gegenbauer und vor allem Don Ingo Schiller, und er steht für die ersten paar Schritte auf dem Berliner Weg. Dass beides möglich ist, zeugt von den Kompromissen, die natürlich notwendig waren und sind, und können wir auch als einen Hinweis auf die Spannungen nehmen, denen Kay Bernstein ausgesetzt war. Seine Wahl zum Präsidenten brachte ja die große Wende in der Club-Politik, für meine Begriffe ist dieser Neubeginn erst jetzt wirklich tragfähig. Und das macht den August 2025, den Auftakt gegen Schalke 04, zu so einem interessanten Moment.
Ich kann mich nur an einen anderen Sommer erinnern, in dem es mehr Gründe gab für eine positive Anspannung. Das war, als Dieter Hoeneß zu vieler Überraschung 2007 einen Trainer aus der französischen Schweiz holte: Lucien Favre. Mit Favre begann eine Phase der sportlichen Belebung, aber auch das zerstörerischen Chaos, aus dem erst das Duo Preetz/Dardai einen Weg zu einer neuen Stabilität fand. Da gehörte Hertha BSC schon einem amerikanischen Equity-Unternehmen, jedenfalls zum Teil, und Ingo Schillers Weg in immer abenteuerlichere finanzielle "Lösungen" war bereits prinzipiell abschüssig. Heute weiß niemand genau, wem Hertha eigentlich gehört, die Mitglieder haben dafür mit der Wahl von Fabian Drescher ein Signal gesetzt, dass sie den Verein in Ordnung halten wollen, während die KGaA wohl noch auf längere Zeit festeren Boden unter den Füßen suchen muss.
In der Folge 7 der Doku gab es längere Passagen über die U17, die ein Turnier in Ägypten spielte. und aus der Niklas Hildebrandt (Jahrgang 2008) hervorgehoben wurde, der mit seinem Interview auch einen sehr positiven Eindruck hinterließ. Genauso positiv waren Szenen mit Julian Eitschberger in NRW, wo er zu RW Essen ausgeliehen war. Er hat nun dieses Jahr die Chance, sich rechts hinten einen Stammplatz zu erarbeiten, wo nach dem Abgang von Kenny ein Neubeginn ansteht. Rechts hinten, das war einmal die Position von Arne Friedrich, bevor der unter Favre nach innen auf die Position neben Jo Simunic rückte. In der Defensivformation unter Karsten Heine, der damals für den gescheiterten Falko Götz die Saison zu Ende brachte, stand auch Sofian Chahed, der heute die Gesamtleitung für das Projekt Hertha Mädels innehat, aus dem Präsidium unterstützt von (nicht nur) Anne Noske.
Fans sehnen sich nach Kontinuität, aber die einzige Kontinuität, die im Fußball zählt, ist eine Siegesserie, und solche sind selten. Die letzten Jahre waren gekennzeichnet von Unterbrechungen, Störungen, Krisen: die Pandemie, der Krieg in der Ukraine (den Russland immer noch grausamer werden lässt), der Irrsinn auf den Plattformen der digitalen Giganten, generell ein Boom der Unvernunft, der uns unaufhaltsam in eine katastrophale Klimaveränderung führt. Hertha hatte mit dem Investment von Lars Windhorst seine eigene Disruption, vergleichsweise ein Satyrspiel, das dort endete, wo man den Big Spender immer schon vermuten musste: in einem Bankrott. Hertha BSC hingegen hat den Bankrott vermieden, und macht Schritte in eine neue Unabhängigkeit. Der Berliner Weg beginnt in meinen Augen erst jetzt so richtig. Ich habe meine Dauerkarten-Unterbrechung beendet und sitze wieder dort, wo ich schon unter Favre saß: Oberring mittig mit Taktikblick. Ich hoffe, Hertha kommt als Tabellenführer zum ersten Heimspiel nächste Woche. Hahohe. Für Kay Bernstein.
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