Die Macht der Gefühle

"Man hat sich das anders vorgestellt." Hertha BSC hat gestern das erste Heimspiel der Saison gegen den VfL Wolfsburg mit 0:3 verloren. Und Ante Covic hat in der ganz kurzen Pressekonferenz nach dem Spiel genau die richtigen Worte gefunden. Er sprach von Balance und von Gefühlswelten.

Er hätte auch sagen können: Gefühlswalten. Das Spiel hatte einen hektischen Beginn mit zwei Elfmeterszenen in den ersten zehn Minuten. Der erste, für Hertha, wurde zurückgenommen, der zweite, für Wolfsburg, wurde nicht überprüft, und wurde ausgeführt. In beiden Fällen gibt es bei ruhiger Betrachtung keine Einwände.

Ins Stadion allerdings gehen die Wenigsten wegen ruhiger Betrachtung. Das Publikum war aufgebracht. Zudem stand Schiedsrichter Winkmann nach der ersten Szene ungewöhnlich lange an der Seitenlinie. Ungewöhnlich nicht zuletzt angesichts einer Szene, die doch rasch zu durchschauen war. Fast schon hatte man das Gefühl, er genieße das Pfeifkonzert.

Weil es ein heißer Sonntag war, gab es zwei Trinkpausen, damit ein Match, das aus vier Vierteln statt aus zwei Halbzeiten bestand. In der ersten Trinkpause war Vedad Ibisevic dabei zu sehen, wie er immer noch mit dem Linienrichter über die Szene mit Karim Rekik diskutierte. Er war da wohl noch in der Gefühlswelt eines, der sich verschaukelt fühlte. Ob diese Ablenkung in der zweiten Halbzeit auch noch eine Rolle spielte, als er nach einem schönen Pass von Grujic die beste Szene in einem da schon deutlich festgefahrenen Spiel hatte, ist naturwissenschaftlich nicht zu eruieren. Ich unterstelle es einfach einmal.

Ibisevic blieb bis zum Ende auf dem Platz, Selke und Redan kamen noch hinzu, da war die Balance dann natürlich weg. Aber auch da wäre es für den ebenfalls eingewechselten Löwen durchaus möglich gewesen, den defensiven Zweikampf, der sich zwischen Stark und Brekalo abzeichnete, auch auf sich zu beziehen, und mit einem Sprint die Balance in dieser heiklen Szene zu verändern. Löwen hätte ohne Weiteres die Innenseite für Brekalo zulaufen können, eine Andeutung hätte wohl genügt, und Stark wäre von dem Dilemma erlöst gewesen, das ihn allein hilflos aussehen ließ.

Hertha lief keine 111 Kilometer gestern, fünf Kilometer weniger als Wolfsburg, die nach dem frühen Führungstreffer natürlich in erster Linie zuliefen. Der Matchplan von Oliver Glasner sah wohl ungefähr so aus, wie er dann aufging. Glasner kam vom LASK in die Bundesliga. Er war vermutlich die interessanteste (preisgünstige) neue Trainer-Aktie in dieser Bundesliga-Saison. Zumindest die ersten beiden Spiele scheinen das zu bestätigen.

Die paar Meter intensives Laufen, die Löwen vor dem 0:2 nicht für notwendig hielt, sparte sich auch Karim Rekik vor dem vorentscheidenden 0:1. Er machte lieber den Logenbesucher, der interessiert einen Zweikampf von Niklas Stark verfolgte, mal eben noch ohne den Gedanken, er könnte von dessen Ausgang betroffen sein. Gegen Klaus kam er folgerichtig deutlich zu spät.

Den Zuschauern im Olympiastadion könnte auch danach in Halbzeit eins noch das eine oder andere Scheunentor aufgefallen sein, das die Hertha-Defensive weit öffnete - Wolfsburg stand mehrmals mit drei oder vier Offensiven gegen die ungeordneten Zwei von Herthas hoch aufgerückter Innenverteidigung. Das waren Momente fehlender Balance.

Hertha verlor das Spiel aber wohl doch in erster Linie, weil die Gefühlswelten übermächtig waren. Die Mannschaft ließ sich frustrieren. Von Lukebakio kamen haarsträubende Hereingaben. Der Coach wurde auch ungeduldig und sorgte für Personalfülle im Zentrum. Das Publikum führte ein Privatduell mit Wolfsburgs Keeper um jede Sekunde beim Abstoß, und sorgte damit ebenfalls für Unruhe. Das ganze Oly war eine Gefühlswelt, aus der allmählich die Spielfreude entwich, und nach neunzig Minuten war Hertha BSC in der neuen Saison - in deren Alltag, der in München noch nicht begonnen hatte - angekommen.


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