Hauptstadt

Als wir gestern Abend nach dem Spiel gegen Stuttgart mit der U2 wieder in die Stadt fuhren, war die Empörung bei zwei Herren aus Kreuzberg, die man bei Auswärtsspielen der Hertha in der Kneipe Zum kleinen Mohren am Moritzplatz treffen kann, groß: In Dortmund oder in München hätte es die gelb-rote Karte gegen Nando Rafael nicht gegeben! Aber in Berlin! Die Schiedsrichter pfeifen gegen die Hauptstadt, und überhaupt: Das mit der Hauptstadt hat hier ja niemand bestellt!

Ich mußte mich mit meiner Dauerkarte als echter Fan ausweisen, um mitreden zu dürfen, und konnte dann nicht anders als darauf hinweisen, daß Nando Rafael eine längere Vorgeschichte des übermotivierten Einsteigens hat, und überhaupt ein Unglücksrabe ist, mit dem man auch manchmal mental ein wenig arbeiten könnte. Als er kurz vor der Pause aus Ärger über einen Pfiff den Ball wegschoß (deutlich und weit und unheilschwanger), blieb dem Schiedsrichter, der an diesem Abend mit seinen Karten im übrigen recht willkürlich verfuhr, nichts anders übrig, als ihn zu verwarnen, und weil Nando schon zuvor mit einem Foul aus Eifer und Ungeschick die erste gelbe Karte gesehen hatte, mußte er vom Platz.

Soweit wir von unserem bürgerlichen Sektor auf der Gegentribüne aus sehen konnten, war er so verzweifelt, daß er beinahe noch mehr Blödsinn gemacht hätte, und Marcelinho war auch im Begriff, sich um Kopf und Kragen zu engagieren. Dann kam der Pausenpfiff, und das unsägliche Pausenspiel, danach war die Luft draußen auch unter den Fans, und während es im Olympiastadion immer dunkler wurde, fand auch das Match irgendwie sein Ende.

Die Stuttgarter waren deutlich schlagbar an diesem Abend, aber in den 40 Minuten vor dem Platzverweis erinnerte mich das Spiel zu sehr an das von letzter Woche gegen Nürnberg: Hertha tat mehr für das Spiel, ohne es richtig zu machen. Es tat sich also wenig, jeder hielt brav seine Position ein, hinten herrschte richtig Disziplin ("die Null muß stehen!"), und die sogenannte Kreativabteilung bewies einmal mehr, warum sie in der Selecao nicht zum erweiterten Kreis gehört: Marcelinho spielte hektisch und eigensinnig, Gilberto zeigte technische Schwächen bei der Ballannahme, die sich mit jedem neuen Zuspiel auf ihn verschlimmerten.

Thorben Marx, von dem man in Bewegungsabläufen und Zehntelsekunden immer wieder sieht, daß er eine überragende Ballintelligenz hat, greift zuwenig ein, er ordnet sich der brasilianischen Hierarchie unter. Niko Kovac, der Dardai inzwischen anscheinend auf Dauer ersetzt hat, machte einen Unterschied vielleicht nur in jener minimalen Hinsicht, daß Hertha zweimal die Chance gehabt hätte, schnell nach vorn zu spielen - und Kovac spielte zweimal einen Querpaß, also jenen Ball, der immer mehr zum Stilmittel dieser Hertha 2004/2005 wird.

Langsam macht die Mannschaft den Eindruck, daß sie sich im unteren Mittelfeld einrichtet. Aus dem riesigen Kader kommt keine Dynamik, weil Falko Götz seine Vierzehn gefunden hat - die positive Geschichte des gestrigen Spiels war vielleicht Malik Fathi, der auf der linken Seite hinten gute Ansätze gezeigt hat, der in die Mannschaft findet, der kaum Bälle verliert, und wenn Gilberto nicht so indisponiert gewesen wäre, dann wäre da mehr gegangen.

Rechts spielen Oliver Schröder, der immer noch ein wenig unsicher ist, und Thorben Marx suboptimal zusammen. Simunic war gut gestern, und der von Spiel zu Spiel konservativer werdende Dick van Burik hat solide seinen Zement zum Beton beigemischt, den Hertha in der zweiten Halbzeit angerührt hat. In der 60. Minute kam dann das Manöver, das mich hoffen läßt, Falko Götz könnte doch noch zu Überraschungen in der Lage sein: Er nahm Marcelinho vom Platz, der psychisch zu diesem Zeitpunkt schon so labil war, daß ihm wenig gelang.

Neuendorf kam, und am Ende kam Artur Wichniarek auch noch, von dem ich immer noch hoffe, daß er die Krise beenden wird - er ist der Begabteste in unserem Sturm, und er allein hat auch die intellektuelle Disziplin, die große Angreifer macht. Die Hertha ist zur Zeit tatsächlich die Hauptstadtmannschaft, in der sich Deutschland wiedererkennen kann: Jeder spielt so, als wollte er seinen Arbeitsplatz nicht verlieren, aber niemand spielt so, als wollte er neue Arbeit erfinden. Sie verdienen auch so genug Geld, um später eine Kneipe am Moritzplatz zu eröffnen, die dem Kleinen Mohren Konkurrenz macht.

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