Im Winter wird gepflügt, im Frühling wird geerntet

Es war eine prächtige Furche, die Sebastian Boenisch am Samstag in den Rasen des Olympiastadions zog. Sein agrikultureller Eingriff holte nebenbei auch noch Janni Regäsel von den flinken Beinen, und trug ihm eine rote Karte ein. Es war einer dieser Momente, in denen es sich lohnt, im Stadion zu sein. Das Publikum hielt ein bisschen den Atem an, nachdem es sich zuvor kräftig Luft verschafft hatte. In welche Tasche würde der Referee greifen? Ein paar Sekunden lang schien er zu überlegen, dann zeigte er den Ausschluss an (im Fernsehen sieht man, dass er zum Linienrichter schaut, er ließ sich also wohl gar nicht von der Atmo beeinflussen). Die Dezimierung des Gegners wurde gefeiert fast wie ein Tor, aber die Fans sind inzwischen versiert genug, um zu wissen, dass Spiele gegen zehn Mann sich auch nicht von selber gewinnen.

Hertha führte zu diesem Zeitpunkt ungefähr Mitte der ersten Halbzeit schon 1:0 gegen Bayer 04 Leverkusen. Nach Boenischs Ausschluss sah alles nach einer klaren Sache aus, denn diese erste Phase des Spiels war geprägt von einem dominanten Auftritt gegen eine nicht gerade einschüchternden Mannschaft, der man die CL-Erfahrung keine Sekunde ansah (oder vielleicht doch, dann allerdings die ernüchternde wie gegen Bate Baryssau). Nach einer halben Stunde hatte dann plötzlich Mehmedi zentral den Ball, Lustenberger ging aus der Viererkette, in der er Langkamp vertrat, attackierte allerdings nicht, sodass sich für seinen Landsmann, der allerdings ein "Secondo" ist, während Lusti dann wohl ein "Primo" sein müsste, ein mustergültiger Lochpass auf Xavier Hernandez anbot.

Die kleine Erbse, derentwegen in den USA mehr Leute Bayer Leverkusen schauen als Bayern München, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Hertha brauchte einen Kopfballtreffer von Brooks nach Corner von Plattenhardt, um das Spiel doch noch zu gewinnen. Es war dann insgesamt eher ein Arbeitssieg, als eine wirklich starke Demonstration der neuen Möglichkeiten.

Aber das passt zu dieser Hertha im Herbst 2015, die mich zunehmend an den (für uns) großen Favre-Jahrgang von 2008/2009 erinnert. Damals war es ja auch so, dass die Liga ein wenig genervt war von der Effizienz, von den vielen schnöden 1:0-Siegen, darunter auch einer gegen Bayer 04 Leverkusen, den ich als besonders markant in Erinnerung habe, mit einem späten Tor von Voronin.

Hertha steht zwei Spiele vor der Winterpause auf Platz 4, es bestehen konkrete Möglichkeiten, in diesem Bereich zu überwintern. Umso stärker muss ins Auge fallen, dass die Mannschaft damit doch über Wert geschlagen wird, zumal, wenn man sich die Ergebnisse gegen Gladbach und Bayern ansieht, die beiden Spiele, in denen die Unterlegenheit eklatant war.

Der Sieg gegen Leverkusen gestern betraf nominell eine der "großen" Mannschaften der Liga, wobei bei Bayer außer dem großen CL-Jahr 2002 da wenig zu Buche steht außer jahraus, jahrein vom übergeordneten Konzern gut subventionierte Meterware im leicht gehobenen Bereich. Den Vergleich zwischen Ibisevic (Schnäppchen, gewissermaßen der Voronin von 2015) und Chicharrito (Weltstar, 12 Millionen) muss Michael Preetz, der während der vorangegangenen Länderspielpause vom Kicker zum besten Einkäufer der Liga erklärt worden war, nicht scheuen.

Trotzdem sollte die Leistung nach dem Gegentreffer vorsichtig stimmen. Eine Stunde lang war das Spiel von Hertha relativ unsauber, es gab viele Pässe, die zwar ankamen, aber so, dass der nächste kaum noch erfolgreich sein konnte. Offensiv wurden die wenigen guten Gelegenheiten nicht mit der letzten Konzentration gespielt, zudem wechselte der Coach ziemlich spät, er dachte wohl eher daran, wie er die letzten Minuten synkopieren könnte, als dass er den Sieg durch einen weiteren Treffer sicherstellen wollte.

Das ist ein Pragmatismus, zu dem Hertha klarerweise jede Berechtigung hat. Allerdings sollten wir uns nicht täuschen lassen: die Rede von einem "langen Weg", der noch zu gehen ist, macht Sinn wirklich nur dann, wenn sich viele Faktoren gleichzeitig positiv entwickeln. Das letzte Mal, als Hertha in der Tabelle zu hoch stieg, war der Absturz fürchterlich. Derzeit entwickelt sich, das sehen wir auch an unseren ungeduldigen Sitznachbarn im Oly, eine leichte Punktesucht, die schon einen Absturz in die Regionen, in denen etwa der HSV derzeit steht, schwer verkraftbar erscheinen ließe.

Zum Glück kommt in zwei Wochen mit Mainz im letzten Spiel vor der Winterpause eine Mannschaft, die als echter Realitätstest erscheinen muss. Vorher gibt es aber noch die sentimentale Reise zu den Ehemaligen, den Besuch bei Niemeyer und Wagner im Hessischen. Da wird sicher ordentlich gepflügt werden.

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