Ein bisschen wie beim Fußball-Memory kam ich mir gestern vor, als ich sehr pünktlich zum Anpfiff an meinem Platz im Olympiastadion eintraf. Die Aufstellung hatte ich nicht gehört, weil wir noch ganz schön lang in der langen Schlange für die Mitglieder am Südtor gestanden waren. Und dann ging es schon los, und dort, wo in dieser Saison normalerweise Haraguchi gespielt hat, sah ich Mitchell Weiser, von dem dann aber schnell deutlich wurde, dass er zentraler tätig war. Wer aber war der Knirps daneben? Doch nicht etwa Mittelstädt? Und wo war Stark? Ach ja, im Mittelfeld, neben Cigerci.
Das Stichwort zu diesem Spitzenspiel der deutschen Bundesliga war schnell gefunden: Rotation. Pal Dardai hatte den Kader ein wenig aufgemischt, und dann mit souveräner Geste eine Mannschaft formiert, die noch deutlich experimenteller war, als ich oder andere Schreibtischstrategen dies in Erwägung gezogen hätten. Für einen Sieg reichte es nicht, das wäre dann doch zu extravagant gewesen, und auch das Remis, das zur Pause noch verdient gewesen wäre, gelang nicht. Aber Hertha trat mutig auf, und kann gestärkt aus dieser englischen Woche hervorgehen, die mit einem trostlosen Auswärtsspiel in Hoffenheim begann.
Die beiden Saisonhöhepunkte endeten mit Niederlagen: 0:3 gegen den BVB im Pokal, 0:2 gegen den FC Bayern in der Liga. Aber plötzlich ist der Spirit wieder da, so wie sich an diesem Samstagnachmittag auch die Sonne schließlich durchsetzte. Es blieb zwar kühl im Stadion, und Pep Guardiola wies hinterher noch eigens darauf hin, dass der Rasen sehr "langsam" war. Wir aber hatten den Eindruck eines munteren Spiels.
Thomas Kraft wurde mit einem Einsatz vor großer Kulisse für sein professionelles Verhalten während des Jahres belohnt. Beinahe hätte er einen Burchert-Moment gehabt, es gelang ihm aber, die Sache gerade noch so zu bereinigen. Als kurz nach der Pause Götze von links auf den Sechzehner zulief, stand die gesamte Hertha-Defensive auf einer Linie, als ginge es nur darum, ihn am anderen Ende des Strafraums zum Umkehren zu zwingen. Stattdessen fand er das beste Mittel, das Bayern derzeit hat: Vidal bekam allen Platz für einen Schuss aus der Distanz, den Stark auch noch abfälschte. Das 2:0 ist ein Fall für die Wunderbücher des Fußballs, und einer für die Naturwissenschaftler: Der unhaltbare Schuss von Douglas Costa setzte selbst die Ronnyschen Gesetze außer Kraft.
Der Effekt dieses Spiels ist ganz simpel: Vor einer Woche meinten wir noch, wir hätten es mit einer erschöpften Stammelf zu tun, von der die Betreuer immer nur so weit abweichen wollten, dass es zu einer richtigen Inspiration nicht reicht. Nun stehen wieder Optionen zur Verfügung, wobei für meine Begriffe Mittelstädt fast mehr für seine Qualifikation getan hat als Stocker, Cigerci und Schieber. Stark und Weiser sehe ich ohnehin bereits als Führungsspieler der nächsten Hertha-Jahrgänge.
Nun "wollen wir schon da bleiben, wo wir sind", sagte Pal Dardai hinterher. Er sprach von Platz 4, von Qualifikationsspielen für die "Champion's League", von sechs Punkten, die aus den verbleibenden drei Spielen noch nötig sein dürften. Um dort zu bleiben, wo wir sind, müssen wir dorthin gehen, wo wir sein wollen, könnte man in Abwandlung des berühmten Goethe-Satzes vom Erben und Erwerben sagen. Das beginnt kommenden Samstag in Leverkusen.
Für einen Moment konnte man letzte Woche den Eindruck bekommen, dieser höchst lebendige Trainer, der Hertha BSC durch die Saison steuert, sei in die Defensive geraten und zeige Spuren von Gereiztheit. Er hat sich auf eine bemerkenswerte Weise befreit: indem er eine Mannschaft aufgestellt hat, die Wagemut und Perspektive erkennen ließ weit über das konkrete Spiel hinaus. Das Spiel ging verloren, aber der Poker von Pal Dardai ging auf. Ich hoffe, wir können noch viel mit diesem originellen Sportsmann erleben.
Kommentare
Einen Kommentar schreiben