von Marxelinho

Jobel und Trobel

Irgendwann gab es einmal eine Werbung, die Konsumenten ein wenig unter Zeitdruck setzen wollte: "Am 32. Dezember ist es zu spät", wofür auch immer. Für Fans von Hertha wäre es in diesem Jahr aber durchaus passend, wenn es einen zweiten Silvestertag gäbe, eine Verlängerung dieses Jahres um einen Jobeltag. 32 Punkte stehen auf dem Tabellenkonto zu Buche, und zwar die ganze Winterpause hindurch unverrückbar - und auch danach nur noch nach oben.

Die Medien reagieren darauf auf die erwartbaren Weisen: Manche schreiben Texte wie "Muss man jetzt Hertha BSC mögen?" (müssen muss niemand, dürfen tut auch nicht jeder), beim Kicker tauchen in den Ranglisten zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten wieder Herthaner im Blickfeld oder sogar eine Etage höher auf. Ab und zu deutet sich irgendwo eine Überforderung an: Nicht alle Fans kommen bei dem Höhenflug so ohne Weiteres mit.

Es ist ja auch eine anspruchsvolle Übung, die da verlangt wird. Es gibt Grund zur Freude, aber gerade bei Hertha haben die letzten Jahre entschieden dazu beigetragen, dass wohl niemand jetzt abhebt. Im Gegenteil bemerke ich an mir, dass sich die prinzipielle Vorsicht tief in mich eingeprägt hat. Von der recht ungebrochenen Zuneigung, mit der ich Hertha nach 2000 verfolgt habe, als ich nach Berlin kam und sofort eine Dauerkarte kaufte (die ich seither jedes Jahr verlängert habe), bin ich Welten entfernt.

Interessanterweise hat mich vor allem die Saison 2008/2009 misstrauisch gemacht, der damalige Höhenflug unter Favre, der tatsächlich ein ikarisches Moment hatte. Das Gefühl, Hertha wäre zu nahe an der Sonne unterwegs, wurde damals durch viele knappe Siege immer wieder besänftigt, aber es wirkte irgendwie richtig, als am Schluss eine Art Zurechtweisung ausgerechnet durch Karlsruhe stand. Und in der nächsten Saison verschwor sich alles gegen Hertha, statt der erhofften flachen Sinkkurve in den erweiterten Kreis der Prätendenten für Europa begannen die dunklen Jahre, aus denen die Mannschaft erst jetzt vollkommen herausgefunden zu haben scheint.

Denn genau besehen gleicht die aktuelle Situation der vor zwei Jahren, als auch schon eine gute Hinrunde gelang, damals noch unter Jos Luhukay. Es folgte eine katastrophale zweite Saisonhälfte, und eine weitere Halbsaison später war die Zusammenheit mit Luhukay nicht mehr tragbar, was sich allerdings erst mit Verspätung konkret auswirkte. Jetzt müssen wir irgendwie mit dem Wunsch umgehen, dass Pal Dardai vielleicht eine Ära prägen könnte, und mit dem Wissen, dass der Fußball sich über die Sehnsucht nach Kontinuität bestens amüsiert.

Das anstehende Jahr 2016 wäre dabei gut geeignet für einen neuen Zyklus. Denn man kann bei Hertha durchaus Perikopen feststellen, also so etwas wie längere Zeiteinheiten, historische Kapitel, um es ein wenig großspurig zu sagen. 1997 bis 2009 war so ein Zyklus, 2009 begann ein weiterer, nun wäre es Zeit für einen neuen.

Als ich 2000 in die Stadt, schon neugierig auf eine Mannschaft, deren Fan ich als Seher der Sportschau in Österreich geworden war, hatte der erste bedeutende Zyklus seit der Wende gerade seinen Höhepunkt erreicht: Hertha war aufgestiegen, und spielte 2000 schon in der "Champions League".

Mit dieser Selbstverständlichkeit, dass Hertha in der Bundesliga eine Spitzenmannschaft ist, haben wir die frühen nuller Jahre gelebt, daran rüttelte auch ein Jahr Abstiegskampf noch nicht, es war nur irgendwann klar, dass es auf Dauer nicht reichen würde, auf Kredit arrivierte Spieler und Trainer zu verpflichten. Mit Lucien Favre erneuerte sich Hertha in diesem Zyklus, in dem die Stadt Berlin noch ganz anders unterwegs war: von Schulden fast erdrückt, ohne nennenswerte Wertschöpfung.

Ich mag mich täuschen, aber für die Stadt hat sich das Blatt ausgerechnet seit 2008 gewendet, seit der Finanzkrise, die Kapital nach Berlin lenkte. Während die Stadt allmählich Boden unter die Füße bekam (niemand würde heute mehr vorschlagen, eine der drei Opern zu schließen), verlor Hertha ihn vollkommen. Oder vielleicht doch nicht? Wenn jemand einmal die Geschichte dieser Jahre schreiben wird (es wäre auch eine Geschichte von Michael Preetz), dann ist durchaus offen, ob man nicht die beiden direkten Wiederaufstiege fast noch höher bewerten müsste als die beiden Abstiege. In der zweiten Liga präsentierte sich Hertha immer souverän als gefühlter Erstligist.

In dieser Phase gab es aber Situationen, in denen einen der Schwindel erfassen hätte müssen: abenteuerliche Schulden wurden durch Überbrückungshilfen von "unbekannter" Seite gerade noch gemanaget. Wenn damals ein direkter Wiederaufstieg missglückt wäre, dann wäre ein Schicksal wie bei 1860 München durchaus möglich gewesen. Hertha hatte sich weit vom Zyklus der Stadt entfernt, konnte aber im Grunde weiterhin auf die positiven Imagefaktoren bauen, die mit Berlin insgesamt verbunden sind. Man musste nur irgendwie den Anschluss daran schaffen.

Das KKR-Investment kam dann zu einem Zeitpunkt, der mir damals eigentlich zu früh erschien, denn es war eine mehr als spekulative Wette, die sich da zeigte. Aber so ist das nun einmal mit Investments, sie bringen meist mehr, wenn man etwas riskiert. Ich staune heute, mit welcher inneren Ruhe ich mir im Mai dieses Jahres das Spiel in Hoffenheim angesehen habe. Denn in Wahrheit war das wohl einer der wichtigsten Momente in der jüngeren Hertha-Geschichte, die knappe Niederlage, die reichte, um zwei Relegationsspiele zu vermeiden.

Dass jetzt der ideale Moment für einen beginnenden neuen Zyklus wäre, kann man aus dem Zusammentreffen verrschiedener Faktoren ermessen: Berlin geht es relativ gut, Deutschland geht es prächtig, und Hertha steht auch so gut da wie schon lange nicht mehr. Ich denke, wir müssen es mit der methodischen Selbstbeschränkung und dem prophylaktischen Abwinken nicht übertreiben: Hertha BSC an der Schwelle zum neuen Jahr stimmt optimistisch. Das ist ja selbst schon wieder ein Effekt, der zum weiteren Gelingen beitragen kann. Hahohe 2016!

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