Konstanten und Variablen

Es wurde dann gleich ein langer Abend gestern, der erste Spieltag mit Pflichtspiel für Hertha BSC in der neuen Saison. Die eigene Mannschaft war dafür nicht verantwortlich: Gegen Braunschweig reichten 90 Minuten für einen Sieg mit 2:1. Danach kam der BVB, und das wurde dramatisch, und weil bei Lucien Favre immer noch ein bisschen was vom Drama seiner ersten Bundesliga-Herausforderung in Berlin dran hängt, sah ich mehrfach interessiert zu.

Für uns ist hier aber natürlich Hertha die selbst gesetzte Beobachtungsaufgabe. Zum ersten Mal präsentierte Pal Dardai eine neue Formation, ein 3-4-3, sodass man neben der Pflicht (den Drittligisten irgendwie zu überwinden) auch eine Menge Kür bekam. Die Formation hat verschiedene Vorteile: Es gibt eine Aufgabe für Jordan Torunarigha, den kommenden Jerome Boateng. Es gibt eine Mitchell-Weiser-Gedächtnisposition rechts auf und ab (wahrgenommen von Lazaro, der allerdings noch nicht so richtig in Fahrt schien). Es gibt viel Raum für Duda, zumal die Doppelsechs (Doppelacht) so angelegt ist, dass beide Spieler gleichermaßen für Absicherung und Umschalten zuständig sind.

Noch ist die Saison zu jung für Prognosen, wie oft Hertha mit diesem System spielen könnte - spontan spricht aber viel dafür, dass da etwas ganz grundsätzlich besser passt. Es lassen sich auch die Spieler besser in diese Formation einpassen. Mittelstädt spielte links vor Plattenhardt, Kalou rechts vor Lazaro, da gehen überall Konstanten und Variablen ineinander über.

Das Spiel selbst war nicht aufregend, jedenfalls nicht für Zuschauer vor der Kiste (in meinem Fall ist die Kiste ein großes, projiziertes = gebeamtes Bild). Braunschweig war ein guter, aber kein unangenehmer Gegner. Nach einer halben Stunde hatte Hertha die Sache im Griff, vor dem Traumtor durch einen Volleyweitschuss von Plattenhardt war schon die Kombination, die vorausging, recht ansehnlich, oder genauer: ein exquisites Herausspielen nach Ballgewinn von Mittelstädt, der den Ball zu Torunarigha zurücklegte, der Maier fand, der legte leicht vertikalisch quer auf Duda, und der spielte dann den öffnenden Pass auf Lazaro, der einen Freistoß im rechten Halbfeld herausholte.

In der zweiten Halbzeit ließ Hertha die Konzentration gerade so weit verloren gehen, dass Braunschweig den Ausgleich erzielen konnte - worauf sofort die Antwort kam. Sie ging von Duda aus, der zu den Gewinnern des Abends gehört: ein Ball über die Braunschweiger letzte Linie, auf den schnellen (gerade für Kalou eingewechselten) Jastrzembski. Mit ihm war auch Ibisievic gestartet, der genau auf gleicher Höhe die Hereingabe über die Linie brachte.

Maier und Duda im 3-4-3: das sah gut aus. Wir sprechen von einer ersten Orientierung. Hertha hat unter Pal Dardai in der ersten Runde des DFB-Pokals immer bestanden. Und sieht man einmal von dem schwachen Heimspiel gegen Köln im Vorjahr ab (das Ausscheiden gegen den späteren Absteiger deutete schon auf eine ingesamt dürftige Saison in OIympiastadion hin), hat Dardai die Beziehungen von Hertha zum Pokalwettbewerb eindeutig verbessert. Vielleicht macht er ja noch wirklich eine Liebesgeschichte draus, von der dann auch der Ligaalltag sicher profitieren würde.

Für die Neuen (Dilrosun nicht im Kader, Köpke nur ein Wechsel für die Uhr, Klünter nicht gebraucht, Grujic logischerweise noch nicht im Kader) zeichnen sich eher punktuelle Möglichkeiten ab. Für den eigenen Neuen Jastrzembski sieht das deutlich besser aus, und für den alten Neuen Duda könnte es mit Hertha doch noch etwas werden. Nürnberg kann kommen. Die Saison kann kommen. Tut sie sowieso.

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Kommentare

Kommentar von Jörg |

Gegen Bremen hat man gesehen, wie die neue Hertha spielt, wenn sie schlecht spielt. Unkonzentriert, fehlertrüchtig, mit zu wenig Zug, nachlässig. Das Besondere der neuen Hertha ist zum einen, dass es in jeder Situation viele nach vorn orientierte Anspielmöglichkeiten in der neuen taktischen Variabilität gibt, dass die offensiven Spielzüge einigermaßen sitzen sowie schließlich die neue individuelle Klasse. Gegen Bremen hat das eine Tor von Dilrosun jedoch gezeigt, dass nur die individuelle Klasse allein nicht genügt. Bremen stand besser und ist nicht nur mehr sondern auch besser gelaufen. Um Anspielmöglichkeiten und danach Chancen zu generieren, muss Hertha viel laufen. So wie gegen Bayern. Mit dem Anstoß war ich beeindruckt, als sich die ganzen großen Bayern-Namen mit ihrer für mich auch beeindruckenden Physis wie eine Panzerfront auf den Pfiff hin gemeinsam in Bewegung setzte. Umso glücklicher war ich, als Hertha ganz unbeeindruckt, wie eine Fahrradkavallerie durch die Bayernpanzer hindurch radelte und immer wieder offensive Spielzüge spielen konnte. Am meisten Angst hatte ich um Mittelstädt und Lazaro in der Außenverteidigung. für mich war das nur eine Frage der Zeit, dass Robben seinen One-Trick-Pony-Trick ansetzt und Mittelstädt düpiert. Oder dass der Ganzmuskelmann Ribery Lazaro ein weiteres Mal überläuft, und dann doch noch jemand eine Lücke in der überragenden Innenverteidigung findet. Aber das Mittelfeld war so gut, dass Bayern am Ende nicht oft genug gefährlich durchkam. Selten habe ich in einem Spiel so häufig ungläubig den Kopf geschättelt, und ich kann mich nicht erinnern, jemals bei Hertha so eine gute Halbzeit wie die erste gegen Bayern gesehen zu haben.

Kommentar von Jörg |

Den Zusammenhang von Fussball und Autobiographie finde ich einleuchtend, Dein Fragment habe ich gern gelesen. Wonach ich suche, das sind vielleicht Fragmente einer Poetik der Fußball-Erfahrung, wo sicher auch fussball-autobiographische Fragmente ihren Platz haben, wenn auch möglicherweise eher am Rande. Es gibt zwar so etwas wie z.B. Gebauers Poetik des Fussballs, aber momentan würde ich nicht die Zeit aufbringen wollen, das zu lesen. Hast Du? Der Abstraktionsgrad solcher Texte steht für mich zu sehr im Gegensatz zum Fan-Dasein. Es könnte also sein, dass ich im Grunde genommen hinter einer nicht verallgemeinerbaren Poetik der Fussball-Erfahrung des Hertha-Fans her bin, gern fragmentarisch und gern sehr zeitbezogen, mit geringer Halbwertszeit.

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