Unter den individuellen Geschichten bei dieser WM beschäftigt mich derzeit am meisten die von Mo Salah. Der ägyptische Superstar soll Probleme mit seinem nationalen Verband haben. Auslöser waren Fototermine mit dem tschetschenischen Diktator und Starkmann Kadyrow, an denen Salah allem Anschein nach gut gelaunt teilnahm. Nachträglich hat er aber offensichtlich das Gefühl, dass er benutzt wurde.
Der Sache ist schwer auf den Grund zu kommen, weil die meisten Zeitungen nur voneinander abschreiben. Im Kern ist es wohl so, dass es schon vor Wochen einen Termin mit Salah in Grosny gab. Plausibel wirkt auch das Detail, dass Kadyrow selbst Salah zu einem Training bringen ließ, an dem der Spieler wegen seiner Rekonvaleszenz eigentlich noch nicht teilnehmen hätte sollen. Verbürgt ist, dass Salah bei einem Bankett vor der Abreise der ägyptischen Delegation zum Ehrenbürger Tschetscheniens ernannt wurde.
Bei allen diesen Fotogelegenheiten sieht man Salah nicht an, dass er ein Problem mit Kadyrow hat. Es ist auch müßig, darüber zu spekulieren, welche politischen Ansichten er hat. In der FAZ gab es kürzlich immerhin einen sehr interessanten Text über die diffizile Positionierung von Salah gegenüber dem ägyptischen Diktator Sisi.
Salah ist ein Volksheld. Die Natur seines Heldentums wird aber zum Beispiel aus einem seiner Tweets deutlich: er beruft sich immer wieder auf die 100 Millionen Ägypter, für die er auch den Elfmeter verwandelt hat, der die Teilnahme an der WM in Russland gesichert hat. Für diese 100 Millionen hält er aber auch ausdrücklich seine Schuhe in die Kamera: I wear those for 100 Million Egyptians.
Der Werbewert eines sympathischen Muslims für die gesamte arabische Welt ist tatsächlich kaum zu überschätzen, und so wird man wahrscheinlich nicht ganz verkehrt liegen, wenn man vermutet, dass nicht zuletzt Konzerne wie Adidas wenig Freude daran haben, wenn Salah sich mit einem Extremisten wie Kadyrow zeigt. Was von Salah gebraucht wird, ist ein integrativer Islam: da treffen sich politische und ökonomische Interessen einmal tatsächlich in einem (wirtschafts)liberalen Sinn.
Wir würden Salah gern als einen ganz normalen Menschen sehen, als einen sympathischen jungen Mann "aus dem Volk", der er wohl auch ist (hier habe ich Bilder von seiner Hochzeit gefunden, allein darüber könnte man Abhandlungen schreiben). Wir haben aber nur einen sehr ungefähren Begriff von den Interessen, die an ihm zerren - die Andeutungen aus dem ägyptischen WM-Camp lassen in Ansätzen etwas erkennen. Schon vor der WM gab es ja einen anderen Sponsorenkonflikt, in dem Salah mit einem individuellen Vertrag gegen den des Verbands stand.
Ein englischer Experte zieht aus der ganzen Sache einen radikalen Schluss. Liverpool sollte Salah so schnell wie möglich verkaufen. In wenigen Wochen werden wir ihn wieder Clubfußball spielen sehen. Da kann er dann wieder ganz normal von Europa aus Strahlkraft entwickeln und Märkte zusammenführen. Eine Weltmeisterschaft nationaler Verbände aber führt fast notwendigerweise zu Konflikten wie dem angedeuteten: nationale Markenbildung (zumal von Ländern mit Unrechtsherrschern) steht eben manchmal gegen individuelle und geschäftliche.
Die Spieler sind "Botschafter" in vielerlei Hinsicht. Manchmal ist es wohl leichter, einen alles entscheidenden Elfmeter in der Nachspielzeit zu verwandeln, als in allen diesen Angelegenheiten eine gute Position zu finden. Die FIFA behauptet, bei der WM ginge es um Fußball, und nur um Fußball. Auch ich falle darauf immer wieder hinein, jedenfalls für die 90 Minuten. Darüber hinaus aber bin ich dem Weltverband fast dankbar, denn diese WM ist wirklich ein Lehrstück für die Geopolitik unseres Lieblingssports. Kein erbauliches, aber ein erhellendes.
Kommentare
Kommentar von Jörg |
Kommentar von marxelinho |
Einen Kommentar schreiben