Mittelfeld mit Beinfreiheit

Hertha bestreitet an diesem Wochenende das Topspiel der Ligarunde - ungeachtet des Revier-Derbies kann das Match mit Eintracht Frankfurt im Olympiastadion durchaus Interesse für sich reklamieren. Die Sportgemeinde aus Hessen hat sich nachdrücklich als Kandidat für Europa etabliert, Hertha hat zwischendurch eine Phase im Vorjahrsmodus (mit reduzierter Ambition) eingelegt und muss heute zeigen, ob das eine Phase war - oder ob einige gute Spiele in dieser Saison eher als Ausnahme zu werten sind.

Zwei Personalien machen in diesem Zusammenhang Hoffnung: Jordan Torunarigha und Marko Grujic. Der junge Verteidiger wird sicher noch eine Weile an seiner Balance zwischen Genie und Unbekümmertheit arbeiten müssen, er hat aber definitiv Anlagen zum Genie. Die spannendste Personalie bei Hertha ist im Moment aber eindeutig Marko Grujic. Das hat mit seiner Vertragssituation zu tun: Er ist ausgeliehen vom FC Liverpool, dort bekam er bisher keine seriöse Chance, bei Hertha aber fiel er sofort auf.

Seine Qualitäten sind deswegen so wichtig, weil sie in Arne Maier eine Entsprechung haben: beide spielen deutlich vertikaler, als es bei Hertha in all den Jahren seit dem Wiederaufstieg üblich war. Grujic hat gegenüber Maier aber noch die Vorzüge seiner spezielleren Athletik und einer offensichtlicheren Dominanz - nicht von ungefähr gibt es zwischen den beiden eine Arbeitsteilung, in der Maier den defensiveren Part hat.

Nebenbei ist das eigentlich eine der größten Überraschungen in dieser Hertha-Saison bisher: wie anstandslos Maier die Sechserposition übernommen hat, also die Zentrale vor der letzten Linie. Vor zehn Jahren, als Hertha unter Lucien Favre mit dem jungen Gojko Kacar eine ähnliche Figur wie Grujic zu etablieren versuchte, da spielte meistens noch ein absichernder Sechser. Der heutige Coach Pal Dardai stand in einer Tradition konservativer "Maschinisten" oder "haltender" bzw. verhaltener Mittelfeldspieler, die von Niko Kovac über Dardai bis zu Lustenberger/Skjelbred reicht. Nun spielt diese Position mit Maier erstmals ein Spieler, der bei aller Solidität doch immer nach vorn denkt.

Und direkt vor und de facto oft neben oder irgendwo im Kraftfeld rund um ihn herum ist Marko Grujic eine herausragende Größe. Seine Statur trägt wesentlich zu einem Mittelfeld mit deutlich erweiterter Beinfreiheit bei Hertha bei. Er hat nun in Interviews gesagt, dass er sich vorstellen könnte, ein weiteres Jahr bei Hertha zu bleiben, wenn die Qualifikation für einen europäischen Bewerb gelingt. Das würde aber bedeuten, dass die Entscheidung erst spät fiele. Vermutlich wird es aber schon im Winter Angebote geben, in England kursieren auch Behauptungen, dass Liverpool schon im Winter verkaufsbereit sein könnte - dagegen würde Hertha sicher ein Veto einlegen, von dem dann zu sehen wäre, wie schwer es wiegt.

Offensichtlich ist die Aufgabe bei einem Aspirantenclub in der Bundesliga derzeit genau der richtige Einstieg für Grujic. Sein Potential geht aber deutlich darüber hinaus. Reicht es aber auch für seinen großen Traum, sich bei Liverpool durchzusetzen?

Nach dem CL-Spiel gegen PSG gab es neulich einen interessanten Text über die Mittelfeld-Probleme bei Klopps Team: Barney Ronay empfahl einen "midfield rethink". Die Schlüsselpersonalie ist dabei Jordan Henderson, den man pointiert als den Lustenberger der Reds bezeichnen könnte - ein Spieler, der gefühlt immer schon da war (er kam 2011 aus Sunderland), und der eine Position blockiert, wie viel Fans meinen. Naby Keita und Fabinho müssen erst integriert werden, zuletzt spielt auch Shaquiri in dem traditionellen 4-3-3 in der Dreierlinie im Mittelfeld. Dazu kommt noch Wijnaldum, und der Mann, der "immer" spielt: James Milner.

Im Grunde müsste Klopp das System ändern, um Grujic gut integrieren zu können. Dafür spricht nicht viel. Hertha kann in der Personalie aber sowieso nur auf Sicht fahren. Und das bedeutet vorerst einmal: in den vier Spielen bis Weihnachten sollte Grujic am besten so unauffällig wie möglich so herausragend wie möglich agieren. Da das bekanntlich nicht geht, bleibt sowieso nur eine Alternative: die Mannschaft muss einem ihrer attraktivsten Kollegen ein Umfeld bieten, das mit seinen Möglichkeiten mithalten kann. Im Grunde ist also alles ganz einfach: Mit Grujic für Grujic um Grujic kämpfen und siegen. Das gilt dann im selben Maß für die anderen "stillen Reserven": für Davie Selke, für Jordan Torunarigha, und natürlich auch für Arne Maier.

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