von Marxelinho

Nur Samstag Nacht

Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ein Spiel von Hertha in der zweiten Liga an einem Samstagabend im Herbst 2023 zu einer meiner besten Fußballerfahrungen werden würde. Aber so war es gestern, obwohl das Spiel gegen St. Pauli mit einer Niederlage (1:2) endete. Es war insgesamt ein bisschen eigenartig, aber darin gerade lag die besondere Qualität des Abends. Ich stand mit meinem Spezl Roland im Sektor 34.1., also am Rand der Ostkurve, umgeben von leidenschaftlichen Sängern. Hertha spielte in Halbzeit eins von uns weg, in der zweiten auf uns zu. Was am anderen Ende des Spielfelds passiert, kann man nicht wirklich genau sehen, was man aber wirklich gut mitkriegt, ist die Breite des Spielfelds, die im Fernsehen immer zu kurz kommt.

Es war schon spannend, und wir hätten uns sicher auch über einen späten Ausgleich sehr gefreut, er lag nicht unbedingt in der Luft, aber es gab noch ein paar Eckbälle, und das Stadion war voll da. Hertha ist genau genommen immer noch in der tiefsten Krise seit dem Wiederaufstieg 1997, aber zugleich an einem Punkt, an dem der Verein sich vielleicht entscheidend neu erfindet. Die Fans tun das ihre, um sich ihren Verein gerade noch einmal vertieft anzueignen, es hat fast etwas Paradoxes, so in dem Sinn: Für Buchhalter und für die DFL mag Hertha BSC einer amerikanischen Investment-Firma gehören, wir aber zeigen nun umso deutlicher, was "Besitz" im Fußball wirklich bedeutet.

Dass das in der 2. Liga stattfindet, in der Hertha sich aller Voraussicht nach ein Weilchen aufhalten wird, ist dabei gerade die Pointe. Hertha sollte in die galaktischen Dimensionen des europäischen Fußballs katapultiert werden, gelandet ist sie fast auf der Schnauze, aber mit einem fast vollen Stadion gegen den FC St. Pauli, und einer Stimmung, wie ich sie in vielen Jahren Dauerkarte in Liga eins nicht oft erlebt habe. Das hat unübersehbar Aspekte von Protest, aber auch von einer neuen Unmittelbarkeit: Fußball wird gefeiert, als wäre jedes Heimspiel eine Auswärtsfahrt in den hintersten Winkel der Republik, wo also nur die Treuesten mitfahren. Die Treuesten sind aber jetzt bei Hertha wahrscheinlich eher 20000 als 2000. Wenn nicht doppelt so viele.

Die Mannschaft spielt übrigens dementsprechend, der Saisonverlauf hat bisher etwas Charismatisches, etwas Enthusiasmiertes. Damit wird man leider nicht Meister, auch nicht in einer Liga zwo, die längst durchprofessionalisiert ist. Hertha ist sportlich immer noch in der Findungsphase, und setzt dabei notgedrungen auf einen großartigen Typen wie Fabian Reese, der gestern in der Nachspielzeit einmal im Vollsprint von einer Außenlinie zur anderen wechselte, um dann auch noch von der anderen Seite einen seiner Einwürfe anzubringen (in England gab es einmal den Spieler Rory Delap, der für dieses Stilmittel berühmt wurde). Dem Spiel von Hertha fehlt Ruhe und Klarheit, das bekommt sie von den Rängen dann auch nicht suggeriert. Personell wäre zu überlegen, Marton Dardai an die Stelle von Kempf zurückzuziehen, der vor allem in der Spieleröffnung alles zu wünschen übrig lässt. Im Zentrum hapert es bei Hertha jedenfalls deutlich, aber gestern habe ich ohnehin nicht analytisch auf das Spiel geschaut, ich habe mich stattdessen von der Atmosphäre bezaubern lassen. Es war ein blauweißes Fest, leicht psychedelisch unter dem illuminierten Stadiondach.

Fußball ist eben nicht nur ein Ergebnissport. Der Fußball wird vielleicht gerade instandbesetzt. Von Berlin aus. Capital Blauweiß.

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