Teufel bleib drinnen

Das "spannendste Fußballprojekt Europas" gegen das spannendste Fuselmarketingprojekt Europas: kann man das schon ein Traditionsderby nennen? Ich meine, ja, denn Hertha BSC hat die Standortfaktoren, die Lars Windhorst und sein neuer Sachverständiger Jürgen Klinsmann entdeckt zu haben meinen, ja schon seit einer Weile. Geworden ist bisher nicht viel daraus, das sah man vor allem immer dann, wenn es gegen die Konkurrenz aus der Nachbarstadt ging: Dort wurde mehr oder weniger aus der Retorte ein europäischer Spitzenclub gezogen, und Windhorsts Strategen, wenn es denn welche gibt, werden das Fallbeispiel sicher studieren.

Bisher hat Hertha im Olympiastadion gegen Leipzig immer eine Lektion bekommen. Gestern war das anders. Das 2:4 hatte so viele Faktoren, dass sportliche Aspekte nur zum Teil von Belang waren. Es gab zwei Halbzeiten, und in beiden Halbzeiten zwei Schlüsselereignisse. Hertha begann mit einer lupenreinen Außenseitertaktik, Fünferkette und vorne zentral Lukebakio. Grujic auf der Bank, stattdessen Rekik neben Boyata und Stark.

Das ging eine halbe Stunde ganz gut, dann erzielte Mittelstädt (mit dem rechten Fuß, den er wohl - Marvin Plattenhardt könnte das interessieren - trainiert hat, denn es ist sein nominell schwächerer) einen sehenswerten Führungstreffer. In diesem Moment war das Konzept aufgegangen. Danach spielte Leipzig allerdings seinen entscheidenden Vorteil aus: Der Sky-Kommentator benannte ihn ganz richtig mit "Ballsicherheit unter Druck". Dazu kam genau jene detaillierte Laufarbeit, mit der man hartnäckig verteidigende Gegner mürbe macht. Beide Faktoren sind bei Hertha (noch) nicht befriedigend entwickelt. Herthaner wirken oft hektisch, und laufen zu häufig nur in ballnahen Situationen.

Über den Elfmeter gegen Rekik kann man lange streiten. Nach den derzeitigen Handspielregeln, die auf jeden Fall im Zweifel für den Stürmer sind, war es einer. Das zweite Gegentor vor der Pause hatte dann schon ein kleines Vorspiel, weil Hertha inzwischen große Schwierigkeiten beim Herausspielen hatte. Das ist eben auch ein Aspekt bei der gewählten Taktik: man ist sehr oft hinten am und im eigenen Sechzehner, da passieren nun einmal potentiell mehr Dinge. Ballverluste rächen sich schneller.

Mit dem Rückstand bekam Hertha in der zweiten Halbzeit mehr Spielanteile. Und es wuchs der Anteil der Unparteiischen. Dass Ilsanker nach seinem Foul an Dilrosun keine zweite gelbe Karte bekam, war keine Ermessensentscheidung, sondern Willkür. Dann kam die Szene mit Laimer und Stark. Sie wirkt nun sonnenklar, aber es war live doch deutlich komplexer: es gibt ja zwei VAR-Instanzen, denn auch der übertragende Sender sieht sich Szenen immer mehrfach an, und auch bei Sky brauchten sie ziemlich lange, bis sie die Verletzung durch den erhobenen Oberarm und das damit einher gehende Handspiel so entwirrt hatten, dass klar war: es hätte vor allem Handelfmeter geben müssen. "Köln" wird nur schwer erklären können, warum hier die Revision ausblieb.

Selbst zu diesem Zeitpunkt hätte Hertha aber noch gute Chancen auf einen Punkt gehabt. Allerdings wechselte Ante Covic unglücklich. Plausibel wäre gewesen, schon relativ früh in Halbzeit zwei die Dreierkette aufzulösen und das Mittelfeld zu stärken: Grujic für Rekik wäre der naheliegende Wechsel gewesen, dazu Selke (oder von mir aus Ibisevic) für Klünter, Wolf eine Reihe nach hinten. Hertha hätte die müder werdenden Leipziger auf jeden Fall vor Probleme gestellt.

Rekik war dann ein drittes Mal an einem Gegentor beteiligt, als er gegen Kampl das Abseits aufhob. Damit war die Sache gelaufen. Der Treffer von Selke gab den wunden Seelen vieler Blauweißer immerhin noch Gelegenheit zu ironischen Kommentaren.

Hertha steht nun hinter Union und riecht schon den Abstiegskampf. Zum vorläufigen Trost kann man nur sagen, dass die teilweisen Leistungen in dieser bisherigen Saison auch den Schluss zulassen, dass gegen alle noch kommenden Gegner bis Weihnachten etwas möglich ist. Es waren leider meist Leistungsbeweise über 30 oder 40 Minuten. Es fehlt, bei allen differenzierten Matchplänen, eine Grundkostanz. Gegen Augsburg gibt es nun aber wirklich keine andere Möglichkeit, als über neunzig Minuten bedingungslos (das heißt nicht: auf Teufel kaum raus) auf Sieg zu spielen.

PS Aus der Fernsehferne sah es so aus, als wäre der Rasen im Oly schon wieder in einem bedenklichen Zustand. Es ist Anfang November!

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Kommentare

Kommentar von Natalie |

"Trotzdem bleibt als Bilanz von Ante Covic, dass er den interessanten Kader niemals auch nur in die Nähe einer erkennbaren Entwicklung und zu Ansätzen einer belastbaren Leistungskontinuität brachte. Brillant, mein Lieber! Mir gefüllt sehr, daß Du Dich in Deiner Analyse, wie zumeist im übrigen, auch dem überbau des eigentlichen Themas annimmst. Eben, für mich ist auch sehr die stilistische Umsetzung der ganzen Zukunftspläne wichtig. Ich wünsche mir freche Eleganz. Eleganz bedeutet das Stilsichere gespickt mit Frechheit und die meint meinetwegen ganz explizit den Berliner Großkotz. In meiner modernen Lieblingsballade zur Hertha hat Daniel Rimkus das sehr genau und charmant eingefangen: ""Arrogant war´n wa schon imma, dit liegt uns im Blut"" ""Wir sind einfach geiler, denn wir sind Blau-weiß"" In diesem Sinne: Warum? Darum! PS: Klinsmann ist seit langem der erste, der der Berliner Medienlandschaft gewachsen ist. Und er scheint zu wissen, was er tut. Das kann uns nur weiterbringen.

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