Unausgeglichene Gerechtigkeit

Es wird Zeit, dass jemand eine Psychologie des VAR schreibt. Das Fußballspiel bekommt durch den Videoassistent (oder eben: den Video Assistant Referee) eine Außenstelle, die dann besonders stark auf ihre quasi-religiöse Dimension verweist, wenn sie sich nicht meldet.

Kurz vor Ende der Begegnung zwischen Hertha und Eintracht Frankfurt hätte sich "Köln" angeblich melden sollen. Bei einem Zweikampf zwischen Grujic und Jovic wurde gezogen und gezerrt, wobei die Bilder darauf hindeuten, dass es mehr war als ein Zweikampf - einen eindeutigen Beweis (also einen Videobeweis) enthielten sie nicht. Zweifellos wäre ein Elfmeter vertretbar gewesen. Aber war es eine gravierende Fehlentscheidung, aus dem Spiel heraus (also von der Wahrheit auf dem Platz her) keinen zu geben?

Hertha führte zu diesem Zeitpunkt immer noch 1:0, den Führungstreffer kurz vor der Pause hatte Grujic per Kopf nach einer Ecke von Plattenhardt erzielt. Die Psychologie kommt für mich als Zuschauer in den Sekunden ins Spiel, in denen wir auf das Eingreifen aus Köln warten. Ich war einer Erkältung wegen nicht im Stadion, kannte also die Zeitlupe schon, die Grujic belastete.

Unweigerlich tauchen in solchen Momenten halb bewusste Erinnerungen an Ereignisse in der Kindheit auf. Ich habe etwas angestellt, und nun muss ich damit rechnen, dass es entdeckt wird. Das waren Stunden, manchmal Tage einer nagenden Ungewissheit, in meinem Fall noch zusätzlich geprägt durch eine katholische Erziehung, die mich mit einem metaphysischen Beobachter rechnen ließ. Die beiden Faktoren spielten natürlich zusammen: Gott und die Eltern - und andere Autoritätspersonen in meiner damals noch kleinen Welt. Und dazu übrigens noch die Aufforderung, das zu beichten, wobei wir schließlich doch nicht ertappt wurden.

Gestern meldete sich Gott nicht. In der Liga heißt Gott Köln, mit bürgerlichem Namen hieß Köln gestern Bibiana Steinhaus (nicht Beglau, wie ich in einer Verwechslung nicht nur zweier Personen, sondern auch meiner beruflichen Sphären geschrieben hatte). Häufig wird erwähnt, dass Gott / Köln beim VAR der Bundesliga in einem Keller arbeitet, wodurch die Sache etwas von einem Höhlengleichnis bekommt. Bilder flackern an einer Wand, sie zeigen aber nur Ideen von einem Spiel. Zu einem widerspruchslosen Universum setzt sich das Spiel auch dann nicht zusammen, wenn man alle Bilder (alle Angles) davon sieht.

Das geht aus dem Umstand hervor, dass Adi Hütter - der österreichische Trainer der Eintracht - die Totalperspektive gleich ganz auf seine Seite reklamierte. Er beanstandete nämlich auch den Eckball vor dem Tor, wollte davor ein Foul von Plattenhardt gesehen haben. Damit hatte die Eintracht das Spiel in der besten aller möglichen Welten gewonnen, nämlich in dem virtuellen Universum, in dem Tatsachen und Möglichkeiten zusammengerechnet werden, und in dem Gott / Köln alles ausgleicht.

Dieses Universum liefe allerdings langfristig auf ein ewiges Nullnull hinaus.

Der Sieg von Hertha war gestern sicher ein wenig glücklich. Unverdient war er nicht. Das war ein hoch professioneller Auftritt, bei dem letztlich Platzfehler und Zweikampfbewertungen entschieden. Also ein typisches Dezemberspiel, das allerdings durchaus Qualitäten hatte.

Pal Dardai hatte auf die Probleme der letzten Wochen reagiert. Die Doppelspitze war keineswegs programmatisch auf ein Offensivspektakel gemünzt, wie es in der Vorberichterstattung auf Sky prognostiziert worden war. Sie war eher, in der Pointiertheit der Formation mit einem aus der Tiefe kommenden und in der Tiefe arbeitenden Ibisevic, eine diskrete Variante einer Außenseitertaktik.

Arne Maier gab hinterher ein tolles Interview, er war bei Sky der Mann des Spiels. Er hielt eine insgesamt sehr homogene Mannschaft zusammen. Einen Spieler würde ich gern noch hervorheben: Leckie wird gerade immer interessanter, er muss nur seine finalen Aktionen noch klarer spielen.

Als ich schließlich in der 87. Minute mit dem Unausweichlichen rechnete, nämlich mit dem in die Luft gezeichneten Rechteck, das auf den VAR verweist, da kam überraschenderweise nichts. Und in diese Lücke gehe ich jetzt mit meiner Deutung: die Entscheidung im Keller von Köln war richtig. Die Situation war keineswegs so eindeutig, wie hinterher alle taten. Die Bilder lösen das Gerangel nicht auf.

Sie zeigten übrigens an anderer Stelle sehr genau, warum Davie Selke das 2:0 misslang - weil der Ball versprang. Fußball ist auch unter den Augen eines Gottes, der in Köln in einem Keller sitzt, kein determiniertes Universum. Sondern ein wenig chaotisch. Selbst in einem Spiel, das stark von Ordnungsbemühungen zweier weitgehend gleich starker Mannschaften geprägt war. Der Sieg geht in Ordnung, weil er so im Spielbericht steht. Die Statistik ist das andere Ende der Gerechtigkeit. Die Statistik erlöst das Chaos aus der Hölle der ewigen Revidierbarkeit. Hertha hat nun 23 Punkte.

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