Zehn Augen

Es war eine umstrittene Entscheidung, die Hertha BSC in den letzten Minuten des Heimspiels gegen Holstein Kiel zwei Punkte kostete. Die Szene zwischen Gechter und Erras kann man so oder so sehen. Ein deutliches Kippbild, in dem entweder Gechter beim Versuch, den Ball wegzuschlagen, den Fuß von Erras trifft, oder in dem Erras diesen Klärungsversuch stört, indem er "drüberhält", wie man in der Fußballersprache sagt. Schiedsrichter Bastian Dankert sah sich die Sache an, er ging an die Seitenlinie, er sah dieselben Bilder wie das Publikum im Fernsehen. Und diese Bilder waren eindeutig nicht eindeutig. Er entschied sich für Elfmeter, weil das zu einer Konvention geworden ist: bei Szenen, die der Feldschiedsrichter am Bildschirm an der Seitenlinie überprüft, wird in aller Regel die vorher getroffene Entscheidung auf dem Feld revidiert.

Warum muss er dann überhaupt hinaus? Weil das ein Ritual geworden ist, mit dem die ganze VAR-Zeremonie so tut, als wäre nach wie vor alles in der Hand eines weisen Mannes mit den untrüglichen Blick. Das ist aber Unsinn.

Ich finde, es ist an der Zeit, das VAR-Protokoll zu überarbeiten. Es wäre auch eine Möglichkeit, den VAR wieder abzuschaffen und zu einem "romantischen" Fußball mit anderen Fehlern zurückzukehren, als denen, die auch der VAR dauernd produziert, aber ich meine, das wäre ein unnötig drastischer Rückschritt.

Folgende Punkte könnten dem VAR weiterhelfen.

Erstens würde ich den Begriff der klaren und offensichtlichen Fehlentscheidung abschaffen. Der Schiedsrichter, das sind ja jetzt schon fünf oder auch (je nach Unterstützung im Videoraum) sieben Individuen, die miteinander kommunizieren. Bisher ist alles so strukturiert, dass die Fiktion eines auf dem Platz herrschenden Unparteiischen gewahrt werden soll. Ich finde aber, man sollte der Tatsache der kollektiven Entscheidungsfindung Rechnung tragen. Das würde bedeuten, dass der Feldschiri nicht mehr an die Seitenlinie muss, er kommuniziert einfach auf dem Feld, was der Stand der Bilder ist. Das würde auch bedeuten, dass der VAR schnell und pragmatisch kleinere Fehlentscheidungen wie bei Eckbällen im laufenden Betrieb korrigieren kann. Das alles wird auch in Zukunft niemals vollkommen problemlos sein, aber es würde den VAR weniger disruptiv machen.

Zweitens sollten die Ligen stärker in Technologie investieren. Zum großen Komplex des Abseits stehen, so weit ich sehe, Lösungen zur Verfügung, die eigentlich bald funktionieren müssten, und die darauf beruhen, dass das Spiel laufend in eine virtuelle 3D-Version übersetzt wird, sodass jederzeit ausrechenbar ist, welcher Spieler sich mit welchem Körperteil gerade wo befindet – in der spanischen Liga tauchen solche Veranschaulichungen auch schon gelegentlich in Übertragungen auf. Das Abseits sollte also, auch mit Hilfe von selbstlernenden Systemen, möglichst vollständig automatisiert werden. Bisher kommt es immer noch gelegentlich vor, dass interessante Spielzüge zu Unrecht unterbrochen werden, weil sich der Linesman zu sicher ist. Und es werden andere unnötig zu Ende gespielt.

Generell sollte der VAR einfach stärker auf das Kontinuum des Spiels bezogen werden. Wir brauche keine Show, in der – jetzt auf Deutschland bezogen – ein Mann auf dem Feld "aus Köln" "angerufen" werden muss – das ist alles Brimborium. Alle wissen, dass er verkabelt ist, dass er ständig mit "Köln" spricht, und dass die Assistenten dort Dinge sehen, die er nicht selbst sehen muss, um eine Entscheidung zu rechtfertigen. Bastian Dankert hatte meiner Meinung nach gestern keine ausreichende Entscheidungsgrundlage für einen Elfmeter. Weil der VAR ihn aber an die Seitenlinie geschickt hat, hat er ihn in einen Entscheidungsnotstand versetzt, der tendenziell dann eher in Richtung Korrektur einer vorher getroffenen Entscheidung aufgelöst wird. Das liegt so in der Natur von Systemen, menschlichen wie technischen, die ja nebenbei auch immer sich selbst bestätigen und rechtfertigen müssen. Der  VAR in seiner bisherigen Form hat also eingebaute Schwachstellen dort, wo er durch seine Ritualform Entscheidungen de facto präjudiziert. Er sollte pragmatischer werden und damit sachlicher.

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Kommentare

Kommentar von Christian |

Interessante Ideen. Ich finde aber trotzdem, man sollte den VAR abschaffen. Handlungen, die die Spieler gar nicht beeinflussen können, weil man (der VAR) sie nur auf dem Seziertisch bewerten kann, dürfen auch nicht sanktioniert werden. Dieses ganze VAR Brimborium hat für mich nichts mit Fussball zu tun. Das geht vielleicht beim Tennis, aber nicht bei einem körperlichen Sport. Und Spaß macht das auch nicht.

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