"Das sieht irgendwie nach Kismet aus", habe ich gestern Mitte der ersten Halbzeit zu dem Freund gesagt, der mit seinem Sohn mit nach Leipzig zum Auswärtsspiel gegen den Retortenclub gefahren war. Ich meinte damit in etwa: nach 25 Minuten, zwei Toren und einer roten Karte, vor allem aber nach vielen markant gewonnenen Zweikämpfen begann allmählich das Gefühl zu wachsen, dass Hertha vielleicht an diesem Abend mit dem Schicksal im Bunde stehen könnte - oder anders gesagt: dass vielleicht tatsächlich gut ausgehen könnte, was nach ein paar Minuten schon fast unmöglich schien.
Denn da musste Jordan Torunarigha vom Platz. Notbremse gegen Werner, ein Foul, das man so und so sehen kann vor allem hinsichtlich seiner Intentionalität, aber das zählt ja bekanntlich nicht. Der Schock war umso größer, als Hertha da schon führte, nach einer schönen Bewegung über rechts, wo dieses Mal Esswein tätig war. Für Davie Selke begann mit diesem Treffer ein denkwürdiger Abend.
Achtzig Minuten in Unterzahl eine knappe Führung verteidigen - selten wird ein Spiel für Hertha-Fans länger gewesen sein, und es wurde paradoxerweise immer noch länger, weil Hertha nicht aufhörte, Tore zu erzielen. Das 2:0 durch Kalou nach einem Freistoß von Lazaro reichte zur Pause, und damit war der Einsatz schon deutlich erhöht. Denn nun würde es noch schmerzvoller werden, wenn das eigentlich Unausweichliche eintraf, nämlich dass Leipzig sich das Spiel zurückholte.
Stattdessen machte Hertha das dritte. Und zwar auf dramatische Weise, nach einem Konter, den Arne Maier nicht abschließen konnte, weil er im Fünfer der Leipziger ausrutschte. Es gab einen Eckball, der Selke die Gelegenheit zu seinem zweiten Treffer bot. Nun ging es noch eine halbe Stunde, wir dachten natürlich auch an die irren Ergebnisse und späten Tore an diesem Wochenende - während wir im Zug saßen, endete das Spiel zwischen Leverkusen und Hannover 4:4. Hertha führte jetzt 3:0, der Ballbesitzwert sank wie der Börsenkurs einer Fluglinie, von der Lufthansa nur die Slots will.
Dann kam der nächste große Moment von Selke: einen Konter, den er sich selbst mit einer brillanten Ballmitnahme zurechtgelegt hatte, schloss er elegant und präzise ab - an die Stange. Jetzt stand es Spitz auf Knopf, Aufholjagd für die Dosen oder Sieg der Mentalität für Blauweiß. Zwei Tore gelangen Leipzig noch, aber Hertha gab das Spiel nicht mehr aus der Hand. Kismet, Mentalität, Talent, ein ausgelaugter Gegner - der Sieg hat viele Väter, das wird nicht der letzte Eintrag dazu sein.
Ich kann mich an keine bessere Auswärtsfahrt mit Hertha erinnern. Das beginnt schon damit, dass das Zentralstadion in Leipzig wirklich einen Besuch wert ist. Wir saßen ideal, so, wie man es sich von einem Fußballstadion erwarten würde: nahe dran, aber hoch genug, um das ganze Spiel auch in seiner taktischen Konstellation erfassen zu können. Ich hatte den Eindruck einer idealen Proportion zwischen Attraktion und Reflexion. (Wir saßen Block 38, Reihe 21). Die Konter in der zweiten Halbzeit rissen uns von den Sitzen, so direkt hatten wir sie vor dem Auge.
Vor allem aber war das eine gigantische Leistung der Mannschaft - ich übertreibe nicht. Es war das dritte Spiel von Hertha BSC gegen RB Leipzig, zweimal war Hertha ohne Chance gewesen, und nun, an diesem so wichtigen Moment vor der kurzen Winterpause, war ein vergleichsweise junges Team voll da, reagierte es auf den numerische Dezimierung mit einer exzellent balancierten, kollektiven Abwehrleistung und großartigen Entlastungsmanövern.
Zwei Spieler stachen besonders heraus: Davie Selke hat seit der Überwindung seiner Verletzung kontinuierlich an Qualität hinzugewonnen, er ist schon jetzt ein kompletter Stürmer, der vor allem mit seinen Tempowechseln in Ballbesitz, mit seinen winzigen Verzögerungen und unwiderstehlichen Antritten, so viel für seine Mitspieler tut - das "clinical finishing" war ihm wohl immer schon gegeben. Der Moment seiner Auswechslung war ein Triumph nicht nur für ihn, sondern auch für Berlin, denn an diesem Abend war Selke schon die 30 Millionen oder mehr wert, die Hertha eines Tages (ich fürchte: eher bald) für ihn aufrufen wird können.
Arne Maier war für mich der Mann des Abends. Es war schon ein sehr gutes Zeichen, dass der Coach ihm einmal mehr das Vertrauen für die Startelf gab. Und vor allem in der zweiten Halbzeit, als er nach der Einwechslung von Skjelbred nach vorne rückte, machte er ein immenses Spiel, er war laufstärkster Herthaner, er war bei der einen oder anderen Entlastung vielleicht nicht cool genug, suchte auch da noch den finalen Pass statt der Entlastung durch ein bisschen Ballbesitz, aber insgesamt war das überragend - wobei er als erster Anläufer eben auch pointiert aus der Formation herausstach.
Man könnte auch Lazaro nennen, der in der zweiten Halbzeit Pekarik vertrat (und zwar so selbstverständlich, dass mir das einschlägige Wort Polyvalenz, das bekanntlich Dieter Hoeneß in die Bundesliga geholt hat, erst heute dazu einfällt), oder Lustenberger, der nach dem Ausschluss von Torunarigha nach hinten an die Seite von Stark rückte. Es war eine Mannschaftsleistung, die schließlich so homogen war, dass sogar die im ersten Moment nicht leicht verständlich Einwechslung von Ibisevic für Selke (der Kapitän fiel zuerst einmal durch eine gelbe Karte auf) einen Sinn bekam: die Gemeinschaft, die sich da am Sonntagabend vor Weihnachten fand, darf ihren Leader nicht außen vor lassen, auch wenn er wohl demnächst verstärkt von der Bank führen wird müssen.
Anders als die leidenschaftlichen Blauweißen im Block bin ich nicht der Meinung, dass alle Bullen Schweine (oder alle Sachsen Nazis) sind. Im Gegenteil, ich hatte auf dem Rückweg noch ein gutes Gespräch mit einem bürgerlichen Anhänger von RB, und insgesamt hatte ich den Eindruck, dass die Stimmung zwischen den Fangruppen sehr in Ordnung war, jedenfalls dort, wo ich unterwegs war. Das 3:2 war nicht zuletzt ein Hinweis darauf, dass RB Leipzig auch als massiv angeschobener Club für einen intelligenten und leidenschaftlichen Gegner keine unüberwindliche Aufgabe darstellen muss. Gestern war Hertha dieser Gegner, und wir waren stolz wie Bolle.
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