Zwangshaarschnitt

In Berlin war politisch oft eine Menge los. Die heutige Gemütlichkeit passt gut zu den Vergleichen mit der Gründerzeit, also mit der wirtschaftlich erfolgreichen Zeit im späten 19. Jahrhundert, als auch Hertha gegründet wurde (wonach die Epoche dann benannt wurde). Ganz anders aber in den 1920er Jahren (Babylon Berlin) und dann wieder ab 1960. Da war Berlin eine Stadt der Revolte, so heißt es jedenfalls in dem Buch von Michael Sontheimer und Peter Wensierski. Von der Studentenbewegung bis zu den Hausbesetzern und bis zu den Dissidenten im Osten reicht hier der Bogen, von Ton Steine Scherben bis Wolf Biermann, vom SDS bis zum Bauhof.

An einer Stelle kommt auch Hertha BSC vor. Leider nicht sehr vorteilhaft. Es sind die Fans, an die sich ein Veteran der Gammlerbewegung erinnert. "Für Langhaarige war es echt gefährlich damals. Du bist von den Hertha-Fans fast gelyncht worden." So erzählt es Shortie Mährländer.

Sagen wir es vorsichtig: In der blauweißen Fankultur um 1966 dürfte es Gruppen gegeben haben, die gesellschaftspolitisch eher auf der konservativen Seite standen, und die wohl auch dem einen oder anderen handfesten Hinweis auf eine Anpassung an die allgemeine Norm (die sich gerade auflöste) nicht abgeneigt war.

Noch in den nuller Jahren musste ich, wenn ich mich in Berlin als Hertha-Fan zu erkennen gab, oft beteuern, dass sich die Fanszene stark verändert hat. Deutschland hat sich ingesamt stark verändert, das hat wesentlich mit 1968 zu tun. Die Springerpresse kann nicht mehr so unverblümt hetzen wie damals, und das Problem mit den Rechtsradikalen hat Hertha in den Griff bekommen.

Aber das Image ist nicht vollständig verschwunden: Hertha ist ein Provinzclub mit rabiaten Fans, die ihr Weltbild aus der Zeitung mit den vier Buchstaben beziehen. Leider tragen die meistens peinlichen Kampagnen, mit denen Hertha sich "ironisch" als balinernder Hauptstadtclub zeigen will, in der Regel dazu bei, dass das Gegenteil haften bleibt: Hertha ist und bleibt weltberühmt in Spandau.

Die Fans haben heute andere Gegner: Sie wenden sich nicht zuletzt gegen die Image-Industrie, die aus Hertha eine programmierte Marke machen möchte. Das ist eine Akzentverschiebung, die auch Bände spricht: heute müssten sich eher die geschniegelten Agenturtypen mit dem dezenten Undercut-Zitat vor den Ultras fürchten.

Michael Sontheimer / Peter Wensierski: Berlin Stadt der Revolte, Chr. Links Verlag 2018, 448 Seiten, 25 Euro

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