Schubumkehr

Die erste Länderspielpause der Saison habe ich in den vergangenen Jahren traditionell in Toronto beim Filmfestival verbracht. Das Heimkommen danach war immer auch verbunden mit der Freude darauf, dass es mit dem Fußball nun endlich richtig losgehen kann. Dieses Jahr bin ich nicht nach Kanada gefahren, auf das kommende Wochenende, wenn es richtig losgeht, freue ich mich trotzdem, zumal sowohl Hertha wie Arsenal gerade Schlusslichter in der Tabelle sind, also endlich loslegen sollten.

Heute will ich mir noch ein paar grundsätzlichere Gedanken über den Stand bei Hertha machen. Der Investor Lars Windhorst bzw. eine seiner vielen Gesellschaften hat ja Mitte August eine weitere Rate an Hertha überwiesen, durch die insgesamt 374 Millionen Euro ist er nun im Besitz von zwei Dritteln der eigens dafür eingerichteten Zweckgesellschaft, die es Hertha erlaubt, sich um die 50+1-Regel in der Bundesliga nicht zu kümmern. Mit einem Wort: Hertha hat den großen Schub nun schon erhalten. Was ist damit geschehen?

Wir müssen uns insgesamt drei Transfersaisonen anschauen, um das in eine Perspektive zu setzen. Dabei wird eine klare Tendenz erkennbar werden. Das erste Windhorst-Fenster war das im Winter 19/20, also knapp vor Corona. Jürgen Klinsmann war damals Trainer. Es war das Fenster im Zeichen der Parole vom Big City Club: Cunha, Piatek und Ascasibar kamen, Tousart wurde verpflichtet, blieb aber noch eine Halbsaison in Frankreich. Lukebakio war im Sommer davor gekommen, diese Verpflichtung entsprach aber im wesentlichen dem Abgang von Lazaro, jedenfalls in den Büchern.

Hertha erregte damals Aufsehen, denn in diesen Dimensionen investiert in der Bundesliga nicht so schnell ein Club. Ein halbes Jahr später, im ersten Corona-Sommer und absehbarer Weise vor einem Jahr der leeren Stadien, war die Offensive schon deutlich gebremst: Cordoba, Schwolow und Zeefuik waren die wesentlichen Neuzugänge, Duda ging nach Köln, insgesamt gab Hertha netto gut 20 Millionen aus.

Das neulich geschlossene Transferfenster weist schließlich sogar ein Plus auf: Hertha hat erfolgreich verkauft (Cordoba und Cunha jeweils mit einem Plus jedenfalls bei dem reinen Ablösesummen). Und hat bescheiden eingekauft: Serdar mit acht und Richter mit sieben Millionen sind die größten Posten, ich beziehe mich dabei immer auf die Abgaben der Seite Transfermarkt.

Für die sportliche Perspektive ist nun die Frage entscheidend: Ist es Hertha gelungen, mit den 374 Millionen einige transformierende Spieler zu holen, die den Kader so verbessern, dass sie eine ganze Mannschaft mitziehen können, die einem Trainer erlauben, Spielformen zu entwickeln, die einfach das Niveau heben?

Cunha, von dem man das unter Umständen behaupten hätte können, ist ja schon wieder weg, war in Berlin als mannschaftsdienlicher Spieler aber auch gar nicht ganz angekommen. Ansonsten muss die Frage mit Nein beantwortet werden.

Allerdings bedarf es einer Einschränkung: Es war immer klar, dass die 374 Millionen nicht nur in den Kader fließen würden. Hertha hatte ja einige Verbindlichkeiten, als Windhorst auftauchte. Dazu kommen die Verluste aus den Corona-Monaten, auch dieses Jahr wird noch eher nicht normal sein. Setzen wir dafür einfach einmal sehr stark über den Daumen zwei Posten: 100 Millionen für Altlasten, 100 Millionen für Corona-Defizite. Das mit Corona war natürlich kairologisches Pech. Aber es bleiben trotzdem theoretisch rund 170 Millionen für den sportlichen Anschub. Runden wir auch da noch einmal grob, so hat Hertha seit dem Winter 19/20 rund 80 Millionen ausgegeben (die Einnahmen durch Cunha und Cordoba habe ich da schon mitgerechnet).

Es bleiben dann eigentlich fast 100 Millionen übrig, von denen nicht ganz klar ist, wo sie eigentlich sind, oder wofür sie geplant sind. Hält Hertha das in Reserve, um im Winter ordentlich neu zu verpflichten? Eher unwahrscheinlich. Soll ein Festgeldkonto eingerichtet werden, wie der FC Bayern eines hat, der gern mit seinen Liquiditätsreserven protzt? Das macht wenig Sinn, wenn die Mannschaft mit null Punkten in der Liga da steht.

Mit einem Wort: Hertha hat sich in der letzten Woche des gerade abgelaufenen Transferfensters, als die letzte Tranche von Windhorst schon da war, merkwürdig verhalten. Man hätte eigentlich erwarten können, dass zumindest der Abgang von Cunha adäquat kompensiert wird. De facto kam dafür ein Talent aus Amsterdam: Jürgen Ekkelenkamp. Hertha hatte eigentlich Geld, hat es aber nicht ausgegeben. Hertha erweckte eigentlich beinahe den Eindruck, da wäre kein Geld (mehr).

Denkbar wäre, dass Herthas Altlasten nach der KKR-Ablösung und vor dem Einstieg von Windhorst größer waren, als Ingo Schiller jemals einer Mitgliederversammlung offen mitgeteilt hätte. Denkbar ist auch, dass Corona auch in die nächste Bilanz noch einmal eine ordentliche Schneide schlagen wird. Aber im Ausmaß vom 100 Millionen?

In jedem Fall ist das selbst im Vergleich zu den vorsichtig investiven Preetz-Jahren pfennigfuchserische Verhalten von Hertha in diesem Fenster auffällig.

Das größere Bild ist ohnehin relativ ernüchternd: Hertha hat nun (nach dem vergleichsweise bescheidenen ersten Versuch mit KKR) zum zweiten Mal einen Investititonsschub erhalten, von dem kein Schub ausgegangen ist. Die Windhorst-Millionen sind weitgehend weg, und andere Ziele als Klassenerhalt oder solides Mittelfeld wären derzeit illusorisch. Windhorst kann theoretisch natürlich irgendwann auch noch das letzte Drittel "seiner" KGaA kaufen, danach wäre jeder weitere Zuschuss dann schon direktes Doping.

Man kann also aktuell nur hoffen, dass Fredi Bobic seinen Ruf als Entdecker billiger Talente bestätigt. Die wichtigste Personalie dieses Sommers war aber ohnehin wieder einmal die des Trainers. Hertha hat sich entschlossen, mit Pal Dardai weiterzumachen, eine unentschlossene Lösung, die Dardai selbst schon jetzt zu relativieren versucht, indem er sich als Aushilfstrainer bezeichnet. Mit dem Begriff kann man arbeiten: Hertha macht in diesen Tagen den Eindruck, als wären die Millionen von Windhorst nicht so sehr ein Anschubinvestment gewesen, sondern ein Aushilfsinvestment.

PS Uwe Bremer hat diesen Beitrag kommentiert. Aus praktischen Gründen findet sich sein sehr hilfreicher Beitrag im Post darunter (Link folgen oder einfach unten weiterlesen)

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